Was geht App in Bürstadt?

Was geht App?

Früher hatten wir Freunde – heute haben wir ein Smartphone. Dieses Zitat des Erziehungswissenschaftlers Matthias Scharlach könnte einem in den Sinn kommen, wenn man junge Menschen sieht, die zusammenstehen, aber jeder dabei auf sein multifunktionales Mobiltelefon starrt. Die Begeisterung für den Mini-Computer ist auch in Bürstadt riesig, in der großen Pause der Erich Kästner-Schule (EKS) sind es nicht wenige, die über das Display ihres Smartphones wischen. Dafür, dass ihnen das erlaubt ist, mussten sie allerdings kämpfen. An der EKS gibt es aber auch eine Schülergruppe, die ihre jüngeren Mitschüler über die Gefahren der digitalen Welt aufklärt – die „Netzhelden“.

Die neuen Medien machen unser Leben schöner, aber es kann auch zu einem gesundheitsgefährdenden Suchtverhalten kommen. Einer Studie mit rund 800 Smartphone-Nutzern zufolge, die an der Universität von Texas in Austin durchgeführt wurde, beeinträchtigt schon die reine Anwesenheit von Mini-Computern die Denk- und Konzentrationsfähigkeit. Forscher haben in Studien eindeutig Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und Schlafdefiziten aufgezeigt. Eine Befragung von Auszubildenden hat 2015 ergeben, dass 16- bis 25-Jährige mehr als die Hälfte ihrer wachen Zeit mit digitalen Medien verbringen.

Im Buch „Wie Jugendliche schreiben: Schreibkompetenz und neue Medien“ von Christa Dürscheid, Franc Wagner und Sarah Brommer heißt es, viele Lehrer hätten einen Rückgang der Schreibkompetenz beobachtet – Kenntnisse in Rechtschreibung und Grammatik seien in den letzten Jahren gesunken. Eine Ursache könne die Nutzung digitaler Medien sein. Selbst Politiker melden sich beim Thema digitale Kommunikation mahnend zu Wort: Der hessische Kultusminister verweist auf Gefahren wie Datenmissbrauch, Kostenfallen und Cybermobbing. Sind auch junge Bürstädter Smartphone-Nutzer gefährdet?

Bei dreimaligem Verstoß wird man zu Sozialstunden verdonnert

Darüber hat man sich an der Erich Kästner-Schule intensiv Gedanken gemacht und dann auch darüber gestritten. Ausgangspunkt der Diskussion war im Jahr 2016 der Wunsch der Schülervertretung und der Gruppe „Netzhelden“ nach einer Erlaubnis für die Smartphone-Nutzung in den großen Pausen auf dem Hof. Denn bis dahin war der Mini-Computer in der EKS und auch im Schulhof schlicht verboten. Selbst Schulleiterin Stephanie Dekker rang damals mit sich in dieser Frage. „Ich habe die kritischen Studien zur Smartphone-Nutzung wahrgenommen. Andererseits mache ich selbst alles digital. Daher plädierte ich dann auch für die Erlaubnis der Nutzung in den großen Pausen“, sagt die EKS-Chefin. Denn die Schüler sollten lernen, mit dem digitalen Freund umzugehen – das sei sinnvoller als eine Verteufelung. Anfang dieses Jahres gab es dann eine „Smartphone-Probezeit“ an der EKS von rund drei Monaten. Und da sich die Schüler an die Regeln hielten, stand der Erlaubnis nichts mehr im Weg. Natürlich gibt es auch Sanktionen, wenn ein Schüler gegen die Regeln verstößt. Wenn ein Smartphone im Unterricht piepst, landet es für den Rest des Tages bei der Schulleitung. Bei dreimaligem Verstoß wird man zu Sozialstunden verdonnert. „Den Fall haben wir aber noch nie gehabt“, sagt Dekker und will damit sagen, dass die jungen Leute an der EKS vernünftig mit ihrem Smartphone umgehen.

Und dies ist sicherlich auch ein Verdienst der Gruppe „Netzhelden“. Gegründet wurde sie von der Lehrerin Maike Sattler-Wolff vor drei Jahren. Diese hatte die Wichtigkeit des kritischen Umgangs mit digitalen Medien erkannt, einen WPU-Kurs und eine AG zu diesem Thema initiiert. Hier lernen die Schüler, wie man digitale Medien sinnvoll und gefahrlos nutzt. Und dieses Wissen geben diese „Netzhelden“ auch an andere weiter: an Fünft- und Sechstklässler der EKS, an Viertklässler der Grundschulen in Bürstadt oder sogar an Erwachsene, wie bei einem Elternabend zu diesem Thema. Mehr als ein Dutzend Schüler wirken mittlerweile bei den „Netzhelden“ mit.

Eine Smartphone-Sucht sehen die „Netzhelden“ an der EKS nicht: „Viele haben ihr Smartphone gar nicht da bei. Und wer es dabei hat, guckt in der Pause nur mal kurz drauf“, so die Beobachtung der 16-jährigen „Netzheldin“ Patrice. Die „Helden“ – zum großen Teil Mädchen – wollen ihre jüngeren Mitschüler darüber aufklären, wie sie ihre persönlichen Daten schützen können und wie man seinen Beitrag gegen Mobbing leisten kann: „Ein unschönes Bild eines anderen sollte man einfach löschen und nicht etwa an Mitschüler weiterschicken.“ Da die älteren „Netzhelden“ in ein paar Monaten die EKS verlassen, bilden sie gerade jüngere Schüler aus, die ihre ehrenamtliche Tätigkeit fortführen sollen.

Verbreitet ist das digitale Mobiltelefon durchaus in Schülerkreisen: „In der fünften Klasse hat etwa jeder Dritte ein Smartphone, ab der achten Klasse jeder“, haben die „Netzhelden“ festgestellt. Genutzt wird es für die Kommunikationskanäle Snapchat und WhatsApp – außerdem als Uhr. Armbanduhren werden selten. Zum Teil wird das Smartphone aber auch im Unterricht genutzt, berichten die „Netzhelden“. Dann werden beispielsweise kleine Filmchen über Unterrichtsinhalte gedreht. Manche Lehrer erlauben auch eine Recherche mit dem Smartphone.

Das Interesse am Lesen ist ungebrochen

Schulleiterin Dekker sieht nach den bisherigen Erfahrungen keine Veranlassung, das Smartphone zu verdammen. „Die Schreibkompetenz ist nicht schlechter geworden. Und das Interesse am Lesen ist ungebrochen, die Mediothek ist gut besucht, in der Wunschbox sind zahlreiche Bücherwünsche zu finden.“ Kopfrechnen müsse allerdings verstärkt geübt werden, weil der Griff zum Taschenrechner im Smartphone auch sehr bequem sei. Schüler mit Schlafdefizit seien Einzelfälle, da spreche man die Eltern an. „Eine Mutter gab neulich im Elternrat den Tipp, die Smartphones im Haus nachts aus den Schlafzimmern zu verbannen und sie an die Ladestation anzuschließen. So schläft man gut“, erzählt Dekker. Die Direktorin betont, dass sie stolz auf die im Umkreis einmalige „Netzhelden“-Gruppe ist, die bei schwierigen Fällen ihren Rat suche. Und die sofort kam, als sie ausgerufen wurde, um in ihrer Pause der Presse zur Verfügung zu stehen. Das Thema digitale Medien sieht sie als gesellschaftliches Problem, darüber müssten alle reden. „Wir haben sicher noch manche Diskussion vor uns, wer weiß, was noch alles kommt“, so Dekker nachdenklich.

An der EKS findet man zweifellos auch echte Freunde, denn schon die Lautstärke beweist, dass man hier noch miteinander spricht. Und nicht nur über das, was über den digitalen Äther geht.